Montag, 28. Mai 2012

Grazia Deledda: La madre


La madre handelt von einem jungen Priester, Paulo, seit sieben Jahren im Amt, in einem kleinen sardinischen Dorf. Grazia Deledda war eine „erdgebundene“ Dichterin und ihre Heimatverbundenheit blieb auch, als sie in Rom lebte und durchzieht ihr gesamtes literarisches Werk.

Paulos unlösbarer Konflikt ergibt sich aus seiner Leidenschaft zu Agnes, seinem Amt als Priester und seiner Liebe zu seiner Mutter. Deledda beschreibt sechsunddreißig Stunden, von Freitagabend bis Sonntagmorgen, „das wie ein antikes Drama aufgebaute Geschehen“.

„Dieses Weinen war ein einziger Aufschrei aus Liebe, Hoffnung und Sehnsucht nach einem jenseitigen Gut gewesen. Jetzt, in der Stunde der Angst, spürte die Mutter ihn aus der Tiefe des Herzens wieder emporsteigen. Ihr Paulo! Ihr Paulo! Seine Liebe, seine Hoffnung und seine Sehnsucht nach dem jenseitigen Gut raubte ihm jetzt der böse Geist; und sie war hier, am Fuß der Treppe, wie auf dem Grund eines Brunnenschachts, ohne auch nur einen Versuch zu seiner Rettung machen.“

1920 erschien dieser Roman, daß der Klappentext ein zeitloses und eindringliches Dokument über den Zölibat nennt, der die „Gewissen verzerrt und ängstigt“, wie Uta Ranke-Heinemann in ihrem Nachwort schreibt. In diesem Nachwort lästert Uta Ranke-Heinemann noch mal so richtig stark gegen das Zölibat ab!

Der Stil und die Sprache, in der Grazia Deledda , die 1926 als zweite Frau, den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist schlicht und einfach, kraftvoll und schnörkellos. Kein Wort zuviel, keines zu wenig, das Wesentliche eben!

„Auch er spürte in diesem Augenblick, mit einem Gefühl von Ekel und Trunkenheit zugleich, etwas schreckliches und Großes in sich wachsen: Er begriff zum erstenmal mit vollem Bewußtsein, daß er eine Frau mit fleischlichem Begehren liebte und daß ihm diese Liebe Freude bereitete.“

Das Paulo durchaus auch scheinheiliger Verführer war, und nicht nur ein Opfer des Teufels, schreit ihm Agnes, die Geliebte, ins Gesicht: „Alle Männer sind Lügner.“

Die Rolle der Mutter ist in diesem Drama eine ganz wesentliche und beschränkt sich nicht nur auf das reichen von Keksen und Tee. Sie hinterfragt alles und leidet wohl am meisten.

„Und sie erinnerte sich, daß auch damals, als Paulo gerade zum Pfarrer ernannt worden war, nachdem sie zwanzig Jahre lang als Magd gearbeitet, jedem Drang nach Leben widerstanden und auf Liebe und Brot verzichtet hatte, nur um ihren armen Jungen großzuziehen und ihm ein gutes Beispiel zu geben, ein solch wütender Wind sie im Dorf empfangen hatte.“

Der Showdown ereignete sich in der Sonntagsmesse. Mit einem unerwarteten Ende, so wie es sich gehört.



“La madre”
Grazia Deledda
1920 italienische Erstausgabe
1994 die deutschsprachige Ausgabe bei Arche Verlag AG, Zürich-Hamburg
Die Textzitate sind aus dieser Ausgabe