Sonntag, 28. Oktober 2012

James Matthew Barrie: Peter Pan


Gelegentlich ein Kinderbuch zu lesen, ist für mich eine ausgesprochen vergnügliche und auch anregende Angelegenheit. Es entspannt mich, amüsiert und regt mich auch an. Da sind dann so viele Bilder in meinem Kopf, die sich dort so vierzig, fünfzig Jahre lang angesammelt haben.  Und interessant für mich sind dann auch die soziologischen Geschichtspunkte, von den literarischen mal ganz abgesehen.

‚ ALLE KINDER, außer einem, werden erwachsen. Sie wissen schon bald, daß sie erwachsen werden, und Wendy erfuhr es auf folgende Weise: Eines Tages, sie war zwei Jahre alt, spielte sie im Garten. Sie pflückte Blumen und rannte damit zu ihrer Mutter. Ich glaube, sie hat wohl ganz reizend ausgesehen, denn Mrs Darling legte die Hand aufs Herz und rief aus: „Ach, warum kannst du nur nicht immer so bleiben!“ Das war alles, was diesbezüglich zwischen ihnen gesagt wurde, aber von nun an wußte Wendy, daß sie erwachsen werden würde. Du weißt es einfach, wenn du zwei Jahre alt bist. Zwei ist der Anfang vom Ende.’ (Zitat, Seite 10)


James Matthew Barrie: Peter Pan

Aus dem Englischen von Angelika Eisold-Viebig
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1911 unter dem Titel Peter and Wendy
© dieser Ausgabe Arena Verlag GmbH, Würzburg 1994
Einbandillustration © Chris Riddell

Dortmund liest...


Rewe, Rheinische Straße, im Dortmunder WESTEND


Donnerstag, 25. Oktober 2012

Sascha Lobo: Strohfeuer


Sascha Lobo ist Blogger, Twitterer und bezeichnet sich als Strategiebrater. Ein paar andere selbsterfundene Berufe, verkündet er salopp,  könne er auch noch nennen. Er steht wohl für das, wovon viele Blogger träumen. 2010 erschien sein Debütroman, den ich vor ein paar Monaten als Mängelexemplar in der Mayerschen Buchhandlung in Dortmund für einen Euro aus der weißen Tonne fischte und mir an einem Nachmittag genüßlich reinzog. Es sind nur 285 großzügig gesetzte Seiten.  Mein „genüßliches Reinziehen“ geschah aber nicht ohne gewisse Vorbehalte und immer wieder tauchte die Frage auf, wie blöd man eigentlich sein muß, kann oder darf. Das mit dem Blöd ist aber so eine Sache für sich und heißt nicht, daß ich diesen Roman blöd finde.

Auf dem Umschlag heißt es: „Tausche Seele gegen Erfolg. Sascha Lobos packender Debütroman über die Lebensgier in den Zeiten der New Economy“.  Zum einen gibt es diese Lebensgier nicht erst seit den Zeiten der New Economy, sondern gerade im Kapitalismus in den unterschiedlichsten Variationen und zum anderen drückt sich diese in jeder Branche aus.  Was in diesem Roman so unterhaltsam und gleichzeitig berechnend für die New Economy typisch herausgestellt wird ist ein alter Hut und gilt auch für Friseure, Verlage, Kneipen, Banken und viele andere Branchen.  Jetzt habe ich die Floristen vergessen; die hatten auch mal Konjunktur und waren in und chic. Fitneßclubs habe ich vergessen zu erwähnen.

Stefan, der Icherzähler, ist fünfundzwanzig. Er kommt als cooler, lässiger Typ rüber, nach dem Motto, was kostet die Welt und was macht ihm am meisten Spaß, was gefällt ihm, was gibt es zu trinken und welche Frau kann er vögeln.  Er mag die Mercedes S-Klasse.  Seine Freunde sind so cool und lässig wie er.  Thorsten, zu meiner Zeit nannte man so was wie Thorsten einen Schaumschläger, vermittelt Stefan in die Werbeagentur in der er selber arbeitet, eine Zeitlang blenden und beeindrucken sie zusammen dort, Thorsten mehr als Stefan und irgendwann fliegt Thorsten raus, was soll’s, war sowieso scheiße, und dann kommt es zur schnellen Gründung einer eigenen Agentur und so ein, zwei Jahr lang hat man Konjunktur. Okay, es wird nicht die S-Klasse, weil Thorsten steht auf A 8! Ist ja auch egal. Stefan wurde nur einmal von der S-Klasse mit dreihundert Stundenkilometern überholt, als er selber zweihundertfünfundachtzig fuhr.

Es gibt noch ein paar andere Figuren in diesem Roman, aber das sind eher eingeschobene Spots, Anekdötchen von und über die Stefan erzählt und berichtet. So ist die ganze Erzählstruktur keine Struktur, sondern eine Aneinanderreihung von klischeehaften Begegebnheiten die ganz bestimmte Reaktionen und Assoziationen beim Rezeptenten hervorrufen und wohl auch hervorrufen sollen.  Und das Ganze so ziemlich ohne Reflexionsebene. Aber wer braucht das schon bei soviel Coolness und Lebensgier? Es ist Unterhaltung! Wenn man so was mag....?!

Dennoch scheint mir noch etwas mir gelungen zu sein, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es beabsichtigt war. Die Darstellung von Oberflächlichkeit, Dummheit und Selbstgefälligkeit nicht nur einer Wirklichkeit.

Ein Satz machte mich stutzig. Woher kennt Sascha Lobo den Satz: „Where’s the beef?“



Sascha Lobo: Strohfeuer

© 2010 by Rowohlt – Berlin Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: any.way Walter Hellmann
Umschlagfoto: © Reto Klar

Freitag, 19. Oktober 2012

Walter: Viktorianische Ausschweifungen


Das interessanteste an diesem Buch ist für mich das einleitende Essay von Steven Marcus. In diesem Essay untersucht und betrachtet Marcus den Text „My Secret Life“ der aus über 4.000 Seiten bestehenden Fassung, die hier in einer Auswahl von 320 Seiten pornographischen Textes vorgelegt sind. Walter ist das gewählte Pseudonym des bis heute unbekannten Verfassers, auch wenn es einige Spekulationen über den Verfasser gibt.  Das Essay von Steven Marcus ist aus dem Jahre 1979 und dem bei Suhrkamp erschienen Buch: „Umkehrung der Moral. Sexualität und Pornographie im viktorianischen England“ entnommen und wurde dieser  mir vorliegenden broschierten Sonderausgabe mit Texten von Walter, die 1997 bei Eichborn erschienen ist,  © Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, vorangestellt.

„My Secret Life“ entstand  über vierzig Jahre hinweg im viktorianischen England, in dem dieser Unbekannte seine sexuellen Erfahrungen und Erlebnisse beschreibt, die er dann 1888 in angeblich sechs Exemplaren drucken ließ.  Der Verleger hat dann still und leise ein paar mehr gedruckt, und die Vermutungen reichen bis zu 25 Exemplaren.  Dieser Verfasser hat also so gut wie nichts anderes getan, als vierzig Jahre lang rumzuhuren, und rühmt sich selbst, keine Perversion ausgelassen zu haben und darüber zu schreiben. Das darüber Schreiben wurde ihm, wie Marcus darstellt, Teil seiner Obsession und Befriedigung.

Die Aspekte und die Bedeutung die Steven Marcus diesem „Werk“ beimißt, ist aber eine ganz andere: Die Informationen über den Zustand und die Zeit dieser viktorianischen Gesellschaft und die soziologische Bedeutung dieses Werkes.  Dabei stellt Steven Marcus eine interessante These auf: Er geht davon aus, das alle damaligen berühmten Autoren und der Großteil der Literatur dieser Epoche, zum einen von diesen Zuständen und Verhältnissen gewußt haben und zum andern beeinflußt wurde! So stellt Steven Marcus Textstellen der Weltliteratur den pornographischen Schilderungen Walters gegenüber, die zur gleichen Zeit in England entstanden sind und schlägt den Bogen sogar bis in die beginnende Moderne der Literatur wie von James Joyce.

„Man kann gegenüber einigen Einzelheiten dieser Episode durchaus skeptisch sein. Ich muß zugeben, daß auch ich einige Vorbehalte hatte, bis ich auf eine Passage bei Dickens stieß, welche die Beschreibungen in My Secret Life bestätigt.“ (Zitat Seite 79)

Diese Buch hier besteht also aus zwei Teilen: Dem Essay von Steven Marcus mit 119 Seiten und dann der Auswahl von 320 Seiten aus Walters „My Secret Life“

Der zweite Teil nun schildert Walters sexuelle Erlebnisse aus seiner Kindheit, seiner Jugend und seinem Alter. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher ob er es mit 1.000 Frauen oder 1.600 Frauen getrieben hat, und ehrlich gesagt habe ich keine Lust, das jetzt zu recherchieren. Ist vielleicht auch nicht so wichtig. Das pornographische Literatur auf Dauer keine Befriedigung bringt, hat Steven Marcus auch in seinem vorangestellten Essay erläutert, und dem kann ich, nachdem ich mir diese 320 Seite Pornographie reingezogen habe, nur beipflichten.  Walter war besessen von Mösen und pissenden Frauen und das alles lesen zu müssen, hat mich nicht gerade angemacht und wurde dann doch ziemlich langweilig. Das fing schon in seiner Kindheit und Jugend an, und auf den ersten 100 Seiten dieser Auswahl berichtet er hauptsächlich davon, bis er dann irgendwann seinen ersten Koitus mit einem Dienstmädchen hatte.  Interessant sind tatsächlich eben die Stellen, wenn er über die berichtet, mit denen er es getrieben hat in vierzig oder fünfzig Jahren (die genaue Zeit seiner Promiskuität habe ich auch vergessen und es ist ja auch egal ob er sich vierzig oder fünfzig Jahre vergnügt hat).

Wertvoll und bedeutend ist dieses Werk eben durch seine nachgewiesene Authentizität und Offenheit hinsichtlich der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie der möglichen Rückschlüssen und Deutungen, die sich auf die weitere zeitgleiche und folgende Literatur ergibt.  Und man erfährt, was berühmte Autoren wußten, andeuteten und verschlüsselten und sich teilweise eben nicht zu schreiben trauten.


Walter: Viktorianische Ausschweifungen

Übersetzt von Reinhard Kaiser
Mit einem Essay von Steven Marcus

Broschierte Sonderausgabe
© 1997 Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, Frankfurt am Main
Essay von Steven Marcus aus
„Umkehrung der Moral. Sexualität und Pornographie im viktorianischen England“.
©  1979 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main



Mittwoch, 17. Oktober 2012

Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrigblieb


Anfang der 1990er Jahre kamen die Japaner als die große literarische Entdeckung auf den Buchmarkt. Warum ich damals, diesen Roman nicht gelesen habe, weiß ich gar nicht so genau.  Und als dann die Hollywoodverfilmung (oder war es eine englische Filmproduktion?) gezeigt wurde, da wußte ich schon nicht mehr, daß tatsächlich ein Japaner diesen damaligen Bestseller geschrieben hat. Jetzt im September brachte btb in seiner süßen besonderen Taschenbuchreihe eine Sonderausgabe heraus.

Es verwunderte mich zunächst schon ein kleines bißchen, daß ausgerechnet ein Japaner die Geschichte eines Butlers aus der ersten Hälfte des vergangen Jahrhunderts geschrieben hat. Kazuo Ishiguro läßt Stevens, Butler auf Darling Hall, im Rückblick als Icherzähler, über seine Jahre auf diesem englischen Schloß nachdenken und Stevens tut das in einer Sprache, wie sie gewählter und feiner wohl nicht sein könnte, was zum größten Teil den besonderen Reiz und Erfolg dieses Buches ausmacht.  Und dieser Erzählstil umschmeichelt einen dermaßen, daß man beim Lesen jeden Augenblick damit rechnet, daß Stevens hereinkommt um den Tee zu servieren. Das Stevens dabei ein emotionaler Krüppel, durch und durch eine Art  devotes unterwürfiges Faktotum seiner ebenso degenerierten Herrschaft zu sein scheint, kann man bei den von Stevens so geäußerten und erzählten Erinnerungen leicht vergessen. Das Empire, vor dem Ersten Weltkrieg noch eine Weltmacht, liegt in seinen letzten Zügen und nur noch reiche Amerikaner können sich nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1950er Jahren solche Anwesen wie Darling Hall mit Butler leisten.

Stevens zelebriert unbeirrt englischen Lebensstil, genauso wie seine Herrschaft und die entsprechenden Gäste.  Aber vielleicht mußte es eben doch jemand von Außen sein, der diese damaligen Zustände so eindrucksvoll schildern konnte, und wer wäre besser dazu geeignet, als ein Japaner? Das soll nicht heißen, daß alle Japaner devot sind, sondern eben traditionell. Und dieses traditionelle Element  ist der zweite Grund für den Erfolg dieses Romans und auch des Films. Übrigens erschien es mir jetzt beim Lesen so, daß die literarische Vorlage nahezu eins zu eins übernommen wurde und nur zwei oder drei kleinere Anekdoten enthält, die im Film nicht gezeigt wurden.

Es gibt noch einen Bereich, der bis zu einem gewissen Grad auch zum Erfolg dieses Romans geführt haben dürfte und den bezeichne ich als seine innere Qualität, die sich nicht bei oberflächlicher Betrachtung einstellt und das ist der, von dem ich annehme und hoffe, daß Ishiguro das auch so gemeint hat, denn es gibt Stellen, da hatte ich das Gefühl: So blöd kann doch kein Butler sein und in diesen Stellen wird es auf subtile Weise zuweilen tragisch.  Und das es dem Autor so ganz Ernst nicht gewesen sein kann, belegen für mich auch die letzten gedanklichen Betrachtungen  Stevens, die er zum Abschluß, im vorletzten Absatz, nach seiner Reise durch die englische Landschaft und seine Erinnerungen hoffnungsvoll anstellt:

„Es ist möglich, daß diese Personen hier einander einfach verbunden sind in der Freude auf den bevorstehenden Abend. Aber andererseits hat es, bilde ich mir ein, vermutlich mehr mit jener Fertigkeit des Scherzens zu tun. Während ich ihnen jetzt lausche, höre ich sie ei9ne scherzhafte Bemerkung nach der anderen wechseln. Auf diese Art, so möchte ich annehmen, gehen viele Menschen gerne vor. Es ist sogar möglich, daß mein Bankgefährte von vorhin erwartete, daß wir miteinander scherzen würden – in welchem Falle ich für ihn vermutlich eine große Enttäuschung war. Vielleicht wird es in der Tat Zeit, daß ich das ganze Problem des scherzhaften Tons mit größerem Nachdruck angehe. Schließlich ist es, wenn man es sich überlegt, gar keine so törichte Beschäftigung – zumal wenn es zutrifft, daß im scherzhaften Ton der Schlüssel zur menschlichen Wärme liegt.“ (Zitat Seite 405, vorletzte Seite.)


Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrigblieb

Aus dem Englischen von Hermann Stiehl
Einmalige Sonderausgabe September  2012
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Die Originalausgabe erschien 1989
© der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by  
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: JHB Studio / Graphistock / Corbis

Dienstag, 9. Oktober 2012

Dortmund liest..... im Westpark




....im Westpark






Erst zögerte sie ein wenig mir zu zeigen, was sie da liest und meinte, sie müsse sich deßhalb schämen, aber dann erzählte sie ganz begeistert: Es ist ein Vampirthriller, und sie empfiehlt es sogar! fünf Punkte!

Montag, 8. Oktober 2012

Ben Macintrye: Der Mann, der König war


Nur der Ordnung halber: 1839 war Josiah Harlan, ein Ex-Quäker aus Chester Country, Pennsylvania, gerade mal vierzig Jahre alt, de jure durchaus zu einem König erklärt; aber so richtig, mit Krönung, Krone und Palast, ist dann doch nichts draus geworden, obwohl er verdammt na dran war, bevor er wieder in Amerika mit zweiundsechzig Jahren versuchte, Weintrauben aus Afghanistan zu verscherbeln, was ihm auch nicht gelang.

Josiah Harlan war ein Glücksritter, ein Abenteurer, einer von mehreren Europäern, die sich vor rund zweihundert Jahren in den Reichen des fernen Ostens durchschlugen und ihre Dienste dem jeweils meistbietenden König, Maharadscha oder Fürsten anboten. Und nebenbei waren sie Spione des britischen Königreiches, der damaligen führenden imperialistischen Großmacht.  Das alles macht seine Lebensgeschichte natürlich überaus interessant und lesenswert, die der heutige Journalist Ben Macintyre eindrucksvoll in diesem Buch, 2005 erschienen, erzählt.

Harlan hat über sein Leben umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen und war auch für Rudyard Kiplings Roman, Der Mann der König sein wollte, Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorlage, aus der John Husten dann 1975 einen Film mit Sean Connery und Michael Caine mit gleichem Titel machte.

Was waren das für Zeiten, als man als enttäuschter und frustrierter Außenseiter noch losziehen, sich bei der Arme als Chirurg und Arzt verdingen, ohne Ausbildung und so richtig fett auf die Kacke hauen konnte um mitzuspielen, in diesem Großen Spiel um Macht und Ansehen, welches heute ja immer noch gespielt wird. Ich schätze mal, vergleichbare Abenteurer, Glücksritter, Egomanen und sonstwie vermeintlich gescheiterte Existenzen haben immer Konjunktur und wie vor zweihundert Jahren schachern ja auch heute noch sogenannte Großmächte um Länder wie Afghanistan und andere Gebiete.  So deckt dieses Buch auch interessante Parallelen zur heutigen Zeit auf, was mich persönlich immer wieder entsetzt und zu dem Schluß kommen läßt, daß sich nicht viel verändert und der Mensch nichts dazulernt, was aus ihm einen hilfreichen und guten Menschen machen würde.

Als Harlan die Bühne der damaligen Welt betrat, hatte Afghanistan eine rund dreihundert Jahre lange glanzvolle Geschichte als Großmacht hinter sich, um deren Trümmer sich nun die degenerierten Erben, die britische Weltmacht, bedroht vom russischen Zarenreich prügelten und Europa verdaute gerade noch Napoleon.  Spannend also. Einer von Harlans Gegenspielern war auch ein General aus Napoleons Diensten, der sich auf den Subkontinent abgeseilt hatte und die Arme eines indischen Maharadschas befehligte. Der General hatte übrigens zum Ende hin mehr Glück als Harlan und setzte sich dann, reich und in Ehren, im Alter in Neapel zur Ruhe und mußte nicht versuchen, Weintrauben zu verkaufen wie Harlan dann in Amerika. Glück hatte aber Harlan dennoch. Einer seiner anderen Gegenspieler, ein Engländer, ein Deserteur der englischen Kolonialarme, machte ebenfalls Karriere als Berater eines mächtigen Stammesfürsten, wurde dann aber in Kabul von der Bevölkerung bestialisch in Stücke gerissen und dann erst getötet.

Nase, Ohren, Füße, Hoden abschneiden, sind damals noch die harmlosesten Folgen von Fehlern gewesen mit denen man rechnen mußte, wenn man für einen dortigen Fürsten arbeitete. Solche fühlbaren Maßnahmen hatten bei damaligen Politikern zumindest aber durchaus Erfolge. Mit ohne Nase, oder ohne Ohren, oder ohne Hand erfüllte man immer noch seine Pflichten.

Was ich noch sehr interessant fand, waren die Beschreibungen über die Spionagetätigkeit dieser Europäer, die für die englische Krone arbeiteten. Das erinnerte mich verdammt an die Berichte über die CIA noch im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Alles in allem ein überaus lehrreiches, spannendes und unterhaltendes Geschichtsbuch, wenn denn der Mensch tatsächlich etwas lernen würde, was ja nicht der Fall war, denn noch immer prügeln sie sich um Afghanistan.

„Die Britten hatten jedoch andere Pläne, und Harlans Kenntnisse blieben ungenutzt. Mit wachsender Verblüffung und sorge mußte er zusehen, wie das Empire Stück um Stück nach Kabul verpflanzt wurde. Jahrelang hatte sich Harlan intensiv mit den afghanischen Bräuchen und Sitten beschäftigt, während sich die Briten nicht im Geringsten um die lokale Kultur scherten, die sie mißbrauchten, verdrängten oder ignorierten. Sie spielten Polo und Cricket, hielten Teepartys ab und inszenierten Laienspiele. Einige holten ihre Frauen, die furchterregenden britischen Memsahibs, herbei, um besser vortäuschen zu können, daß Afghanistan wirklich ein Teil Indiens sei. Die schlimmste Unbequemlichkeit der frühen Tage – sie wurde bald behoben – war ein Mangel an Wein und Zigarren. Die Eroberer zeichneten sich nun zudem selbst mit Orden und Titeln für den erfolgreichen Feldzug aus: Auckland erhielt die Grafenwürde, Macnaghten den Titel eines Barons und Claude Wade die Ritterwürde. ‚Ritterschläge, Ordensbänder und Beförderungen wurden den Siegern über die elenden Afghanen mit verschwenderischem Großmut zugeteilt’, bemerkte Harlan mürrisch. Dies seien die Belohnungen Ihrer Majestät für ‚die Auslöschung einer freien Nation’.  (Zitat Seite 297)



Ben Macintyre: Der Mann, der König war

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
© 2005 Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlags KG, Berlin
Bildnachweis: Schutzumschlag: obere Abb.: akg-images,
untere Abb.: akg-images / Paul Almasy

Dienstag, 2. Oktober 2012

Milena Agus: Die Frau im Mond


Was für ein kleines, gerissenes Luder! Dabei ist die Autorin 1959 geboren, was diesen Gedanken, den ich über sie beim Lesen ihres Romans „Die Frau im Mond“ entwickelte, vielleicht nicht ganz passend macht.  Aber ich wiederhole ihn auch am Morgen danach: So ein kleines gerissenes Luder! Und ich meine das mit allem nötigen Respekt und voller Bewunderung für die Autorin, denn dieser einhundertsechsunddreißig Seiten dünne Roman gehört zu den Besten, die ich dieses Jahr gelesen habe.  Es gibt noch ein paar andere Beste Romane die ich in diesem Jahr gelesen habe, aber die waren samt und sonders alle über vierhundert Seiten dick, und von Männern geschrieben und so erscheint mir Die Frau im Mond wie ein kleines Wunder, welches zu schaffen wohl eher Frauen in der Lage sind, denn Männer, die alles haarklein und Seitenlang erzählen wollen.

Erzählt wird die Geschichte einer „verrückten“ Bauerntochter auf Sardinien, die einfach keinen Ehemann findet, obwohl sie zunächst zahlreiche Verehrer hat, die aber dann irgendwann Reißaus nehmen.  Also eine klassische Liebesgeschichte?! Klar, aber was für eine! Die Agus führt uns hier das Leben dreier Generationen vor, auf diesen einhundertsechsunddreißig Seiten der deutschen Originalausgabe, daß einem zuweilen der Atem stockt und man überlegen muß, wo bin ich denn eigentlich gerade und wenn man das wieder weiß, berührt sie mit einem feinen Nebensatz, einer schlüpfrigen Bemerkung oder einem zeitlichen Hinweis alles was sie auf außergewöhnliche Weise im Leser vorher berührt und ausgelöst hat; womit ich eben wieder bei meinem kleinen, gerissenen Luder wäre.

„Während des Kuraufenthalts fehlte ihm das Klavier sehr – das heißt, es hatte ihm gefehlt, bis er Großmutter kennenlernte. Jetzt war es ein wenig wie Klavierspielen, wenn er sich mit ihr unterhielt, wenn er sah, wie sie lachte oder einen traurigen Ausdruck annahm oder wie sich ihre Haare beim Gestikulieren lösten, und wenn sein Blick bewundernd an den zarten Innenseiten ihrer Handgelenke hängen blieb, die einen solchen Kontrast zu den rissigen Händen bildeten. Von jenem Tag an waren Großmutter und der Reduce unzertrennlich, es sei denn, einer von beiden mußte schweren Herzens Pipi machen gehen. Sie kümmerten sich nicht um das Gerede der Leute, er, weil er aus dem Norden des Landes kam, und Großmutter auch nicht, obwohl sie eine Sardin war.“ (Zitat Seite 36)

Dieser Roman erschien 2007 in Deutschland und der Verlag kam offensichtlich mit dem Drucken nach. Im Jahr seines Erscheinens wurden mindestens sechs Auflagen gedruckt!

Noch ein kleiner Tipp: Suchen Sie sich ein ruhiges Plätzchen: Fernseher aus, Radio aus, Handy aus und verrammeln sie die Tür vor der Welt und dann lesen Sie diesen Roman in einem durch. Das dauert nur zwei, oder drei Stunden.


Milena Agus: Die Frau im Mond

Aus dem Italienischen von Monika Köpfer
© 2007 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Umschlag: Steigenberger Graphikdesign, München
Foto: Johannes Kroemer / Getty Images