Montag, 30. April 2012

Rabindranath Tagore: Gora

Gora ist ein junger orthodoxer Brahmane aus gutem Hause würde man heute sagen und lebt in Kalkutta. Sein bester Freund von Kindheit an ist Binoy, auch er, ebenfalls ein streng gläubiger und praktizierender Hindi.

Damit dürfte klar sein, das keiner von den beiden, ein Glas Wasser von uns annehmen würde. Es ist die Zeit um 1890 in Kalkutta, als Reinheit das höchste Gebot war, die Zeit der Kasten und auch der vielen Sekten und Gora steht kurz davor, ein bedeutender Guru zu werden.

Nun ist nicht alles eitel Sonnenschein in diesem von den Engländern kolonisierten Land Bengalen, welches nur ein kleiner Teil von Indien ist.

Eines Tage ereignet sich ein Unfall vor Binoys Haus. Der Verkehr in Kalkutta war auch damals schon ziemlich verwirrend. Ein älterer Herr in Begleitung seiner Tochter wird leicht verletzt, und Binoy leistet Erste Hilfe. Und damit beginnt dieser Roman und man steckt sofort mitten drin in einer fremden Welt voller Regeln und Anweisungen. (Schon sehr frühzeitig habe ich während des Lesens bewußt ein rituelles Bad genommen; normalerweise dusche ich nur).

Das hier ein Meister erzählt, mit viel Zeit und Muße und Gefühl ist spätestens nach zehn Seiten klar. Figuren entwickeln sich, das Leben in seiner ganze Vielfalt enthüllt sich, gesellschaftliche Strukturen werden erkennbar und eine für uns Christen fremde Glaubenswelt. Eine Glaubenswelt? Da kommen schon fünf verschiedene zusammen und das führt natürlich zu Spannungen, Verwicklungen an denen Tagore den Leser mit viel Ironie teilnehmen läßt. Wohlgemerkt, es ist eine Liebesgeschichte, die quasi den Rahmen bildet, um den sich das Leben in all seinen Facetten rankt.

Es ist keine Schnulze a la „Palast der Winde“. Rabindranath Tagore schreibt wie die großen alten russischen Autoren und wollte etwas verändern. Er war ein engagierter Kultur- und Sozialreformer zu seiner Zeit.

„Was Euer künftiges Wohl und Wehe betrifft, so hege ich schlimme Befürchtungen, aber ich habe nicht das Recht, Euch dieser Befürchtungen wegen zu hindern, weil in dieser Welt diejenigen, die mutig durch eigene Erfahrungen zur Lösung immer neuer Probleme beitragen, die Gesellschaft weiter voranbringen. Diejenigen aber, welche nur nach den vorgegebenen Regeln leben, bringen die Gesellschaft nicht weiter, sie stützen sie nur. [...] Gott pflegt seinen Schöpfungen unter keinen Umständen Fesseln anzulegen; durch beständige Wandlungen weckt er in uns das Streben nach ewig Neuem. “ (aus Gora)

Was mich betrifft, so bin ich diesem Tagore hoffnungslos erlegen und habe dieses Buch mit dem allergrößten Vergnügen gelesen und bin auch über so manches meiner Vorurteile auf das sanfteste belehrt worden. Er ist mein neuer Dichter-Guru! 1913 erhielt Tagore den Nobelpreis für Literatur für einen seiner Gedichtbände.

Der Roman Gora schwirrt heute noch durch die Antiquariate und bei amazon gibt auch gebrauchte Exemplare.