Montag, 27. August 2012

Urs Augstburger: Als der Regen kam

Dieser außergewöhnlich Roman hat so seine Tücken. So recht konnte sich der Autor wohl nicht entscheiden, ob er eher einen Heimatroman oder einen Liebesroman schreiben wollte. Vielleicht sollte es ja auch ein generationenübergreifender Schicksalsroman werden? Bisher hatte Urs Augstburger Bergromane und Bergthriller geschrieben. Herausgekommen ist eine Mischung von allem, und dabei kommt es noch zweigeteilte daher. Die erste Hälfte ist ein langatmiger Entwicklungsteil, gibt sich spröde und diffus, durch den man sich fast kämpfen muß. Erst nach über hundert Seiten kommt dieser Roman dann so richtig in Fahrt und wird lebendig, spannungsreich, dramatisch und überraschend.

Helen Nesta hat Alzheimer. Ihr Sohn Mauro kehrt zurück in seine Heimatstadt und besucht sie im Pflegeheim, da sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert hat. Die Heimatstadt rüstest sich wie jedes Jahr zu ihrem Jugendfest. Sympathisch kommt dieser Mauro auf den ersten Seiten nicht rüber. Er ist völlig überfordert, als er sich mit dem Verhalten und der Krankheit seiner Mutter konfrontiert sieht. Ein ganz merkwürdiger Typ: halb Schweizer, halb Italiener. Hm, die Eidgenossen waren ja schon immer ein recht eigenes Völkchen in Europa und ich frage mich gerade, ob mir da das Verständnis für diese Eigentümlichkeiten zunächst fehlt.. Aber halten wir mal zu gute, daß der Autor das beabsichtigte.

Die anderen wichtigen Männer in Helen Nestas Leben sind dann Pius Kobelt und Jakob Matter. Ganz klar die beiden waren in den 1950er Jahren Konkurrenten in ihren Bemühungen um die Gunst von Helen Nesta. Als Urs Augstburger Jakob Matter das erste mal als einen Großvater in die Erzählung einfließen läßt, er ist 75 Jahre alt, hüpft da noch ein elfjähriges Mädchen herum, welches sich schon seit Monaten auf dieses Jugendfest freut, um das ja die ganze Handlung gestrickt ist. Das erste Bild welches ich an dieser Stelle im Kopf hatte, war das von Heidi und dem Geißenpeter und dem Großvater, und ich dachte mir, daß kann jetzt nicht wahr sein. Aber doch, es ist war und ganz und gar beabsichtig von diesem Teufelsbraten Urs Augstburger. Ein paar Seiten später erwähnt er selbst den Großvater und diese Heidi. So mit seinen Lesern zu spielen, hat durchaus was.

Was macht eigentlich einen Heimatroman aus? Erst mal sind es natürlich die Orte, quasi die Kulisse, in und davor geschieht die Handlung. In diesem Fall ist es ein kleines schweizerisches Städtchen mit Tradition und irgendwie idyllisch gelegen: Da gibt es die mittelalterliche Altstadt, Türme, Stadtmauern und -tore, die Flüsse, die Wiesen, die Felder, die Wälder. Und die zweite Zutat für einen Heimatroman sind dann die Menschen die ganz offensichtlich von ihrer Heimat geprägt und beeinflußt wurden und deren Eigenheiten im Wechselspiel zu den Orten und dieser Kulisse herausgearbeitet werden. Na ja, so in etwa, ich habe mich bisher nie mit Heimatromanen beschäftigt. Aber dieser Roman ist ja auch kein reiner Heimatroman.

Ein Zentraler Punkt in diesem Roman ist das sogenannte Jugendfest, in diesem kleinen Städtchen, diesem idyllischen Schweizer Städtchen, welches eher bedeutungslos ist und welches sich verkehrstechnisch auch nicht weiterentwickelt. Auf den ersten hundert Seiten wird dieses Jugendfest immer wieder erwähnt und all seine Rituale und Bestandteile werden aufgezählt, aber es gibt keine Erklärung, was sie bedeuten. Doch jetzt, nachdem der Autor alle Personen vorgestellt hat, und die alle irgendwie in einer ganz bestimmten Beziehung zu diesem Jugendfest stehen, jetzt, so ab Seite 100, Seite 110, beginnt das Jugendfest und der Leser erfahrt Stück für Stück live, was diese Rituale und Bestandteile dieses Jugendfestes bedeuten und welche Mythen sich um es ranken. Das hat Urs Augstburger hervorragend gemacht, wenn man denn soweit liest und nicht vorher aufgibt. Aber Romane, die sich über hundert Seiten erst entwickeln müssen, ohne mich sofort einzunehmen, finde ich eigentlich Scheiße.

Absolut packend ist der zweite Teil, der nun zu recht Liebesroman und Schicksalsroman genannt werden darf . Inzwischen gewinnt auch Helen Nesta an Kontur. Literarisch eine Figur zu fassen, die an Alzheimer erkrankt ist, in einem Roman der in der Gegenwart handelt und gleichzeitig in der Vergangenheit, in der eben Helen Nesta die namentliche Hauptfigur ist, bedarf eines Kunstgriffes und wohl auch viel Phantasie. Der Kunstgriff ist, das Helens Sohn aus seiner Sicht ihr Leben erzählt und die Phantasie ist, das Urs Augstburger versucht, sich vorzustellen, was diese Helen wohl denken mag. So gibt es Textstellen, die kursiv geschrieben sind, die Helen denkt, so wie sich Augstburger das wohl denkt, wie sie denken könnte:

„Eine Unterschrift, besiegelt ist besiegelt, das Fest schon Jahrestage vorbei. Wozu der Anzug? Sein Malerkittel wäre so schön farbig, mit Flecken so rot wie ihre, jetzt trägt er schwarz und sie auch nicht weiß. Einer hat ein dickes Buch, ist das eine Zylinderkerbe auf der Stirn? Schwere Blumen mit schweren Köpfen auf dem Tisch, keine Granatblüten, und alle tuscheln, diese Heirat ist eine Beerdigung, sein Sarg ist leer, denn.“ (Zitat Seite 139)

Diese Anfangs gelegentlich eingeschoben Gedankenfetzen Helens kommen in der zweiten Hälfte des Romans häufiger vor. Ich halte diese Stellen für bedenklich und bin mir dabei nicht sicher, ob es tatsächlich möglich ist, das ein Alzheimer Patient in der Art denkt. Vielleicht hätte Augstburger auf diese kursiv dargestellten Stellen verzichten sollen und bei seinem Kunstgriff bleiben sollen..... aber, er hat es relativ vorsichtig getan, so daß es nicht weiter störend ist .

Ein weiteres Genre, in dem dieser Roman durchaus mithalten kann, wäre dann noch der Thriller. Die zweite Hälfte ist tatsächlich spannend, wunderbar geschrieben und man wartet auf den Showdown und auf das Lüften des Geheimnisses.

Leicht wird es dieser Roman nicht haben, dazu ist er zu unspezifisch und hat zu viele Eigenheiten und scheint auf zu vielen Hochzeiten zu tanzen. Unterm Strich aber, wenn man als Leser durchgehalten hat, offenbaren sich Ecken und Kanten, die das Leben aus und zu etwas besonderem machen. So wie dieses Buch.



Urs Augstburger: Als der Regen kam


© 2012 Urs Augstburger
© 2012 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
Schutzumschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung eines Fotos von © Gettyimages/Ecell
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