Samstag, 14. Juni 2014

Vladimir Sorokin: Der Schneesturm


Ganz klar: Eine nette, gut erzählte, kleine Geschichte! Arzt, mit einem lebensrettenden Mittelchen,  muß irgendwo schnellstens hin, aber in der Poststation gibt es keine Pferde und das irgendwo in der russischen Taiga, oder sonstwo in der Gegend.  Nun, Rettung ist nah und das in Form eines Schneemobils, von fünfzig kleinen Pferdchen gezogen und dem Kutscher.

„Verstehen Sie denn nicht, ich muß da unbedingt hin!“, rief Doktor Garin mit zorniger Geste. „Patienten warten auf mich. Kranke Menschen! Dort herrscht eine Epidemie! Sagt ihnen das Wort etwas?“
„Selbstverständlich verstehe ich Sie, Verehrtester, wie könnte ich nicht?“, erwiderte der Stationsvorsteher, den Oberkörper servil vornübergebeugt, die Fäuste gegen das Wams aus Dachspels gepresst. „Sie müssen dahin, das verstehe ich gut. Die Sache ist nur: Ich habe keine Pferde und kriege vor morgen auch keine mehr rein!“
„Keine Pferde, wie kann das sein?“, empörte sich Garin. „Was soll eine Station ohne Pferde für einen Sinn haben?“ (Seite 5)

Schon auf der ersten Seite zieht Sorokin seine Leser hinein in eine Welt und Sprache, die an die Sprache und Welten der großen alten russischen  erzählenden Meister erinnert und genauso klingt.  „Eine Schönheit war diese Müllerin nicht, doch ihre Fraulichkeit nahm ihn ein. Es war angenehm, mit ihr zu plaudern.“ (Seite 55)

Irgendwie ist unser Arzt dann doch unterwegs und wetterbedingte Schwierigkeiten verzögern das Vorrankommen, man macht Stationen und Rast und so erfahren wir vieles wieder einmal über die russische Seele, die Menschen, und die Gegend. Wir sind aber nicht bei Dostojewski, Tolstoi, oder Tschechow, auch wenn sich alles so anfühlt. Wir wissen noch nicht einmal, in welcher Zeit dieser Roman handelt: Man stelle sich vor: fünfzig kleine Pferdchen vor einem Schneemobil! Menschen die zu Zombies werden, wenn die Doktorchens Mittel nicht bekommen!

„Auf dem ersten Kanal liefen Nachrichten; von der Rekonstruktion des Automobilwerks in Schiguli war die Rede und von den neuen einsitzigen Kraftfahrzeugen mit Kartoffelantrieb. Die Müllerin schaltete um auf Kanal 2. Da lief der Werktagsgottesdienst.“ (Seite 64)

Wann man ist, oder wo man ist, spielt aber in dieser irren und atmosphärisch stimmigen Geschichte nicht die große Rolle und es macht Spaß, sie zu lesen, und offensichtlich hat sich Sorokin auch seinen Spaß beim Schreiben gemacht, was ihn zu recht zu einer „Kultfigur“, wie Spiegel online schreibt, macht.  Darüber hinaus gilt Sorokin als „einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Rußlands und so gesehen, spiegelt dieser kleine Roman durchaus den Zustand seiner Menschen, zwischen Tradition und Moderne, Vergangenheit und Zukunft.

Dennoch bleibt eine kleine Unbestimmtheit, ein Gefühl, welches ich beim Lesen hatte. Sorokin ist kein Tolstoi, Tschechow oder Dostojewski; vielleicht aber einer der Besten von dem, was die heutige russische Literatur zu bieten vermag.


Vladimir Sorokin: Der Schneesturm

Aus dem Russischen von Andreas Tretner
© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Umschlaggestaltung und –motiv: Rudolf Linn, Köln