Donnerstag, 19. November 2015

Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon - 1. Betrachtung




1. Betrachtung

Zugegeben, das war bisher meine anstrengendste Lesearbeit und ich fühle mich nach dieser einerseits erleichtert, andererseits, platt ausgedrückt, „matschig“! Dafür gibt es einige gute Gründe, die ich im weiteren Verlauf meiner Betrachtungen zu diesem Buch noch ausführen werde. Die Hauptursache: man kann dieses Buch auf mehrfache, ja fast schon auf vielfältige Weise lesen. Wieland machte dem Begriff des „poeta doctus“ seiner Zeit alle Ehre. Ich bin ja der Ansicht, er hat es durchaus darauf angelegt und sich IMHO zuweilen einen Spaß daraus gemacht, in dem er kohärente Sätze von unglaublicher Länge produzierte, die zu verstehen heute teilweise die Benutzung unterschiedlichster Wörterbücher verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen wahrscheinlich macht. Hinzu kommt die sekundäre Dunkelheit, die Geschichte des Agathon hat Wieland mehrmalig in verschiedenen Fassungen, 1766/1767 erstmalig, veröffentlicht.

Eine anstrengende Lesearbeit kann es also sein, lässt man sich auf mögliche Leseweisen ein. Ich schlage da schon mal die philosophische, die geschichtswissenschaftliche, die literaturwissenschaftliche, die soziologische, die psychologische und natürlich besonders in der heutigen Zeit die kulturwissenschaftliche Brille vor. Alles Bereiche die Wieland mit diesem Roman bedient, und das sind nicht alle. Er selbst, um das vorweg zu nehmen, nannte seinen Agathon einen philosophischen Roman. Zu Wielands Bedauern erkannte aber wohl keiner seiner Zeitgenossen was das heißt, immerhin wurden von der ersten Fassung in zwanzig Jahren rund 1000 Exemplare verkauft und Wieland wusste sehr genau, wer den Agathon gekauft hat und wer von denen ihn vermutlich gelesen hatte. Damals war es üblich, die Werke der „Kollegen“ zu lesen. Und Goethe las, lobte dezent und hielt sich ansonsten aber bedeckt. In seinen Briefen beklagte Wieland, mit anderen Worten, von Keinem verstanden zu sein. Aber zur Rezeptionsgeschichte später mehr.

Der Deutsche Klassiker Verlag spricht nun auf dem Einband der mir vorliegenden Ausgabe von einer „Wiederentdeckung“. Da werde ich dann immer hellhörig und lese genau hin, wenn es dann noch heißt, „Anfang und Vorbild des modernen deutschen Romans in einer sorgfältig edierten und umfassend kommentierten Ausgabe. (Noch ein Grund, rechtschaffend „matschig“ zu sein).

Was mich nebenbei wunderte, diese Dünndruck-Ausgabe im Taschenbuchformat von insgesamt 1156 Seiten hat tatsächlich gehalten! Also physisch! Der Buchrücken hat ein paar Falten bekommen, ist aber nicht gebrochen, alle Blätter nun mit Knitterfalten und mehrfarbigen Unterstreichungen sind noch immer fest, obwohl ich nicht gerade pfleglich mit diesem Band umgegangen bin, im Gegenteil. Eine kleine Enttäuschung sind für mich die Varianten der Textes, die ich in dieser Edition nicht vergleichen kann. Diesbezüglich spricht der Kommentar von „Eindrücken“, die man vermitteln wollte, was nun ganz und gar nichts wert ist, als eben nur eine Ahnung von was auch immer. Es ist nun mal keine historisch-kritische Ausgabe, aber meine Betrachtungen hier sind ja auch keine wissenschaftliche Abhandlung.

Die 1156 Seiten dieser hier vorliegenden Ausgabe von Text und Kommentar, teilen sich wie folgt auf: Text erste Fassung 1766/67, S. 9-556; Anhang: Synoptische Übersicht, Zusätze, Ergänzungen von 1773, 1794 und 1800, S. 557-796; Kommentar, S. 797-1114, Register, S. 1115-1148; Inhaltsverzeichnis, S. 1149-1156. Damit dürften also schon mal einige mögliche Leserinnen und Leser abgeschreckt sein.

Kleiner Hinweis für diejenigen, die nur am Text interessiert sein sollten: Suchmaschine; es gibt frei verfügbare kostenlose und kostengünstige Online- und PDF-fassungen. Inwieweit die zitierfähig sind, muss dann geprüft werden.

Soweit meine erste Betrachtung, die mehr den äußeren Umständen und meinem Zustand nach der Lesearbeit galt. In der zweiten Betrachtung geht es dann um den Inhalt dieses von Wieland philosophisch genannten Romans. Die meisten Leser zu Wieland Lebzeiten, hielten ihn für sittlich Anstößig. Einer der ersten Leserbriefe an Wieland endete mit der Schilderung einer Erektion des Rezipienten beim Lesen. Was waren das für Zeiten: Gothe konnte damals nicht mal das Licht im Zuschauerraum seines Theaters ausmachen, weil die Leute das Knutschen und Fummeln anfingen. 





Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon

Herausgegeben von Klaus Manger


© Deutscher Klassiker Verlag, Berlin
2010
Umschlag-Abbildung: Christoph Martin Wieland (1733-1813).
Ölgemälde von Georg Oswald May, 1779.
Original: Wieland-Museum Biberach.